Das Mastodon-Paradox
Was des einen Freud ist, ist des anderen Leid – ja, manchmal kann man kleine Texte auch mit einem Standard-Satz einleiten, insbesondere, wenn es um die spezielle Beziehung von Twitter und Mastodon geht.
Seit der Milliardär (Spezialisierung auf Unterhaltung und Luftballons) Elon Musk ein paar seiner Milliarden in die Übernahme von Twitter versenkt hatte (Ja, wir gehen doch mal bitte von “versenkt” aus. Keiner denkt doch, dass er eine gesunde Plattform aufbaut und da mit Gewinn rauskommt), startete ein Exodus Richtung Mastodon. Und dies natürlich absolut zurecht.
Mastodon hat viele Vorteile und auch weiterreichende immanente Features, welche die dezentrale Plattform zur Antwort auf die Frage macht: Wie wollen wir in Zukunft unser soziales- und auch öffentlich-politisches digitales Leben ausgestalten?
Jetzt auch mit Usern
Mastodon wirkt da wie der digital “Fleisch gewordene Traum” der Piratenpartei der späten 00er-Jahre. Und auch, wenn es sich manches Mal anfühlt, als würde man in diese Zeit zurückversetzt (was nicht stimmt, Facebook und co. waren schlechter vor 14 Jahren), so erfüllt dieser Teil des föderierten Netzwerks (dem Fediverse) viel, was sich Netzaktivisten lange gewünscht haben: Dezentralität, basisdemokratische Entscheidungsfindung (möglich) und keine Abhängigkeit von großen Konzernen.
Nun kommt noch eine weiter Komponente hinzu, die natürlich für ein soziales Netzwerk zentral ist: Eine große digitale Öffentlichkeit. Ohne Mampf kein Kampf und ohne eine diverse Usergruppe wird Mastodon und das Fediverse immer eine freakige Nerdshow der Partikularinteressen bleiben. Und auch wenn das gar nicht schlecht ist und seinen Platz in der Welt haben sollte (auch Tumblr ist “alive” und in seinem Maße “well” gerade), wollen wir doch alle irgendwie mehr.
StudiVZ der 2020er?
Nichts war trauriger, als die digitale Nahtoderfahrung gemacht zu haben und sich noch einmal in seinen Studi- bzw. MeinVZ-Account irgendwann in den 2010ern einzuloggen. Keine Webseite stand so für eine Geisterstadt wie der deutsche Facebook-Vorgänger. Zu MySpace kann ich leider wenig sagen, da war ich einen Tick zu alt. In meinem Tech-Snobbismus meiner 20er hielt ich die mit Musik unterlegten Webseiten für sehr “cringe”, wenn es das Wort schon in der Bedeutung damals gegeben hätte.
Ich glaube aber nicht, dass Mastodon und das Fediverse den selben Weg gehen werden. Das sind natürlich hohe Worte von einem Nutzer der seit erst einer Woche dabei ist, aber meine lieben Kinder, ich habe in meiner Zeit schon genug Tech und Services erlebt, um sagen zu können, was gut ist und was nicht. Und ... ähem ... ja, meine Begeisterung für Google Stadia ... Nun, da reden wir hier nicht mehr drüber ... Sie verstehen ...
Oder anders: Ich sehe viele Mastodonis, gerade aus der Tech-Szene, die sich ein gebührendes Maß an Skepsis antrainiert hatten (wie yours truely), die innerhalb von Tagen zum absoluten Fediverse-Jünger geworden sind. Wo ist die Magie? Warum passiert sowas. Ich nennen es das Mastodon-Paradox.
Das Paradoxon
Aber kommen wir dazu, warum ich denke, dass Mastodon die Synthese und ist und praktisch dialektisch miteinander viele Dinge miteinander vereinigt, die eigentlich als unvereinbar gelten.
Erst einmal zum liebsten Kind von Alt-Rights und Elon dem Lemusken:
Freedom of Speech (Groß geschrieben und mit Fähnchen)
Wollen alle, aber nur, wenn mir keiner widerspricht. Dass Twitter hier absolute Meinungsfreiheit in den digitalen Absonderungen garantieren würde, ist praktisch unmöglich. Kein private Firma kann und darf das einfach so machen und garantieren. Es ist Werbesprech muskscher Art: An dem einen Abend verspricht er einen Super-Androiden und am anderen direkt die vollkommene Meinungsfreiheit. Dass er in einem Netz der Befindlichkeiten und der Rechte sitzt, sieht er selbst nicht.
Auf der anderen Seite wird Mastodon vorgeworfen:
“Ja, ihr da drüben habt ja keinen Musk, aber ihr habt ja dann nicht nur einen Tyrannen, sondern direkt drölfzigtausend!!!11elf”
Und diesen entgegne ich dann:
Ja, recht so!
Dieser Aspekt sorgt nicht für weniger Meinungsfreiheit, sondern für mehr. Ein Admin oder eine Gruppe von Mods und Instanz-Großgrundbesitzern ist erst einmal nur sich selbst und den eigenen Usern gegenüber verpflichtet, als Zweites dann (wenn sie wollen) dem Fediverse.
Gibt es harte Arschloch-Admins, dann finden sie keine Nutzer und wenn, dann werden sie schon wissen, warum sie unter der harten Knute leben wollen (Zwinker, Zwonker).
Haben sich Instanzen selbst ein hartes Regime an Regeln auferlegt, um einen safe space zu schaffen, dann ist das auch im ausschließendem Moment der absolute Ausdruck von Meinungsfreiheit:
Wir müssen dir nicht zuhören, ich kann vor dir die Tür schließen, wenn ich keinen Bock auf deine Aussagen habe.
Und dabei ist es auch egal, ob eine Instanz alle Nutzer mit einem “E” im Namen ausschließt.
Alle Grundrechte kommen positiv und negativ daher, auch immer als Abwehrmechanismus gegenüber dem Staat, aber natürlich auch den lieben und nicht so lieben Mitmenschen gegenüber. Wenn ein soziales Netzwerk Türen anbietet, die geöffnet und geschlossen werden können, dann ist dies ein Mehr und ein Gewinn an Meinungsfreiheit.
Für Twitter und Vulgär-Libertäre ist das absolute Recht auf Blöken freie Meinungsäußerung. Dass es falsch verstandene Meinungsfreiheit ist, wenn der heiß-laufende Blockbutton als der Höhepunkt der negativen Freiheiht gesehen wird, wird in den Kreisen nicht so gesehen.
Dass Müll-in-der-Timeline und ja, für jeden ist “Müll” etwas anderes, keine Meinungsfreiheit ist, sollte klar sein.
Dezentralität und Flexibilität sind (Vorsicht, hohes Wort!) ein Geschenk an den mündigen Bürger, um sein Leben selbst zu gestalten.
Und ja: Wir leben jetzt erst in einer Zeit in der man das technisch umsetzen kann und auch die nötigen Nutzerscharen bekommt, um dies am Leben zu halten.
Wie für den Kommunismus der Kapitalismus eine notwendige dialektische Vorbedingung darstellt (wenn man denn dem ollen Kalle Marx anhängt), so musste es auch Twitter geben, damit Mastodon entstehen konnte. Wir mussten erst zu den freien Social Network-Proletariern werden, die das neue System stützen können. Oder so ähnlich.
Alles hat seine Zeit und deswegen ist Mastodon eher modern und als der Zeit gefallen.
Und das ist die Auflösung des Paradaxons: Dass mehr Kontrolle und Kontrolleure mehr (Meinungsfreiheit) bieten als weniger.