Hunting Eudaimonia

Lineage OS oder wie ich selbst versagte, es mich aber auf einen besseren Weg brachte

Zum Zweiten Teil der Serie: Ubuntu Touch; “Nice try, aber lass uns Freunde bleiben.”Zum Zweiten Teil der Serie: Ubuntu Touch; “Nice try, aber lass uns Freunde bleiben.”

Ubuntu Touch ist nicht ganz die Smartphone-FOSS-Erfüllung gewesen, die ich mir vorgestellt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich aber noch nicht vor, mein richtiges Android komplett mit etwas Anderem zu ersetzen.

Das Rabbit-Hole öffnete sich allerdings langsam … langsam aber sicher.

Custom Roms richtig töfte – aber welches denn?

Das Pixel 3a bekommt seit September keine offiziellen Patches mehr von Google. Deswegen sieht es auf der custom-rom-Front auch relativ bedeckt aus. Dachte ich. GrapheneOS listet das Smartphone z. B. als obsolete. Es werden also keine Updates mehr nachgereicht. Aktuell befindet sich allerdings noch LineageOS-ROM in aktiver Entwicklung für das 2018er-Smartphone.

LineageOS ist aus dem Anfang bis Mitte der 2010er beliebtesten Costum-Rom CyanogenMod entstanden. Nachdem der Lineage-„Vater“ den Weg alles kapitalistischen gegangen ist, musste der Nachfolger die ROM-Welt retten. (Erklärung hier: https://de.wikipedia.org/wiki/CyanogenMod)

Die Installation war diesmal auch ganz einfach, es läuft nur ein bisschen anders ab, als bei den großen Konkurrenten von Graphene und Calyx: Zuerst wird eine spezielle Recovery-Version auf das Smartphone geflashed, in der dann das eigentliche Rom installiert wird. Klappte auch wunderbar und lief schnell durch.

LineageOS präsentiert sich als blankes AndroidOS und ist sehr nah an der freien Android-Variante AOSP dran. Ich habe mich auch dagegen entschieden, das ROM mit Google-Apps-Unterstützung aufzufrischen und auch gegen eine Installation der freien Google-Dienste-Variante MicroG, die Programmen vortäuscht, sie würden auf einem ganz normalen Google-isierten Smartphone laufen.

Ich wollte einfach mal die blanke degooglete Variante sehen.

Ehrlich: Die gefiel mir aber gar nicht so. Aber das lag auch zum größten Teil an mir, da ich das ganze System drum herum nicht verstand.

Frankensteins Monster Phone

Ich nutzte zum Einen nur F-Droid als Store, um mir Apps herunter zu laden und zum anderen setzte ich nicht auf den Fake-Play-Store Aurora, um mir anonym direkt andere Apps zu laden und diese auch zu updaten. Nein, ich suchte mir wild im Netz irgendwelche APKs von Apps aus, da ich nicht immer gute Varianten von meinen meist benutzten Progrämmchen im F-Droid-Store fand.

So ähnelte meine App-Landschaft eher Frankensteins-Monster, hier und da aus den verschiedensten Quellen installiert, was natürlich aus Sicherheits-Perspektive eine absolute Katastrophe ist. Aber wie weit kam ich denn nun in der Variante:

• Die Grundbedingungen wie Sync von Kontakten, Terminen, Mails und Fotos waren sogar schon sehr gut vorhanden, da ich hier auf meine Nextcloud zurückgreifen konnte; • Andere Apps waren so lala. Online-Banking habe ich gar nicht erst ausprobiert, Whats-App und Konsorten kamen aus APKs, es fehlte aber hier und da unheimlich viel. • Google-Apps waren aber wirklich fast nicht auf dem Gerät. Der Google-Kalender wurde über CalDav gesynct, Gmail kam über K9-Mail an, YouTube lief im Browser. • Die Kamera-App war Murks, wurde aber durch das APK-Installieren einer Custom Variante der Gcam besser. Als ich denn mal eine fand, die lief.

Gefühlt tat ich dem guten LineageOS unrecht, wenn ich es nicht mochte. Das war noch nicht daily driver mäßig und zu sehr von meinem Use-Case Smartphone weg.

Das geht noch besser – also von mir aus

Positiv bleibt festzuhalten, dass LineageOS schnell ist, das alte Handy noch Unterstützung erfährt und auch MicroG über F-Droid ohne Probleme nachinstalliert werden könnte (habe ich auch erst später erfahren).

Edit: Bzw. MicroG kann nicht auf purem LineageOS nachinstalliert werden, da die offizielle Linie ist, dass Signature Spoofing böse ist. Manche Forks können dies, u. a. das sehr beliebte LineageOS for MicroG. (Danke für den Hinweis: @Kurt@chaos.social)

Damit würde es auch eine echt gut Alternative sein und eigentlich nach meinem Dafürhalten fast schon auf einer Stufe mit CalyxOS.

Aber nun gut, ich wollte auch einfach mehr und als ich in einem YouTube-Video von eben diesem CalyxOS erfuhr, holte ich die Flash-Ausrüstung wieder hervor und zog ins nächste Abenteuer.

Ubuntu Touch; “Nice try, aber lass uns Freunde bleiben.”

Zum ersten Teil der Serie: Meine Google Story – Ist es ohne nötig und warum überhaupt?

Die ganze Deogoogle Reise begann eigentlich um die Weihnachtszeit herum. Irgendwie ploppten bei einigen Linux-YouTubern Reviews über die aktuelle Version von Ubuntu Touch auf (Courtesy to @LinuxGuides@mastodon.social and @techhut@fosstodon.org). Nachdem ich länger nichts mehr wirklich Neues über die Entwicklung von mobilen Linux-Betriebssystemen gehört hatte, war ich neugierig. Denn ich warte (oder „wartete“? Spoileralarm und forshadowing ...) schon auf den Tag, dass ich ein Linux wirklich aktiv auf meinen Smartphone nutzen kann.

Ich hatte Ubuntu Touch einmal kurz vor zwei Jahre auf meinem alten (Display-zerstörten) Nexus 5 ausprobiert und war nicht so angetan:

Es war ziemlich langsam, was natürlich auch an dem alten Smartphone lag, es gab nur wenige Apps und ich konnte nicht einmal Google Apps über den Browser ansteuern, da der spezielle UT-Browser noch nicht für die GAPPS „freigeschaltet war“. Alles in Allem keine gute Erfahrung und dahinter trat die durchaus interessante GUI zurück.

2020 noch nicht so weit, aber wie sieht es den 22/23 aus?

Spulen wir also in die Weihnachtszeit 2022 vor. Anscheinend hat die Gemeinschaft hinter Ubuntu Touch (UBPorts, Webseite), die das Projekt übernommen hatten, nachdem Canonical es eingestampft hatte, es geschafft, einen Build zu kreieren, der so ausgereift ist, dass damit die Werbetrommel gerührt werden konnte. Linux Guides hatte hierzu ein Pixel 3a geschickt bekommen. Auf dem Google-Handy soll es nach der Aussage der Entwickler bislang am “rundesten” laufen.

Und da war mein Interesse geweckt und es juckte mich arg. Also: Auf ins Netz und mir ein gebrauchtes und refurbished-es 3a gekauft, als verspätetes Weihnachtsgeschenk an mich selbst. Von Google selbst kann man Software-mäßig nichts mehr Neues erwarten. Das Smartphone hatte im September 2022 sein end-of-life erreicht. Android 12 ist das letzte OS was läuft. Aber es sollte ja nicht mein Pixel 6 ersetzen, sonder „nur“ zum Spielen sein.

Erste Hürde war es, das 3a zu flashen und Ubuntu Touch zu installieren. Hatte zwar vor Jahren – wie gesagt – das ganze einmal gemacht, aber jetzt wollte es nicht klappen, nicht auf Windows (die meisten tutorials referenzieren auf das Redmonder OS), nicht unter Linux. Fastboot wollte nicht klappen.

Flashen wie der Blitz – Moment, so schnell geht es nicht

Und es war wie so oft:

Unter Windows hätte es an einem Treiber gefehlt unter Linux fehlte „sudo“, ähem … Dass manche Tutorials immer davon ausgehen, dass man Befehle immer als root eingibt. Als ich das einmal verstanden und den Befehl zum “bootloader unlocken” eingegeben hatte, war der Rest auch einfach.

Nun ja und egal. Die Installation ist ansonsten sauber und sicher.

Und dann lächelte mich das Ubuntu-Mobil-Linux an. Es sieht schon ganz schick aus, wirkt aber in der Bedienung und im Aussehen wie ein Relikt aus den 2010ern. Da kommt es ja auch her. Die verschiedenen geöffneten Apps fächern sich in der Übersicht z. B auf, wie Anno 2012. Aber die ganze GUI stottert nicht. Das Pixel ist ja auch schon ein paar Jahre jünger

Apps sind leider immer noch ein Problem. Zwar gibt es mittlerweile mehr davon und die Unterstützung für Web-Apps ist deutlich verbessert worden, allerdings mangelt es noch leider in alle Richtungen, bspw. sucht man einen E-Mail-Client vergeblich “ab Werk” und der in der Community beliebteste ist auch nicht das gelbe vom Ei.

Gut, aber nur als Linux-Fan mit einem Auge geschlossen

Ich hatte ein wenig die Erwartung, dass ich auf Ubuntu Touch auch Anpassungen von Desktop Apps sehen würde, bspw. ein Thunderbird oder einen Firefox und andere FOSS-Apps wie K9-Mail. Dass diese nicht vorhanden sind, mache ich allerdings nicht Ubuntu Touch zum Vorwurf und ich denke, dass dahingehend meine Erwartungen an das Betriebssystem auch einfach falsch waren. Es ist schon ein komplett neuer Ansatz und die Userbase klein, aber fein.

Man kann zwar mittels Waydroid eine Android-Emulation auf dem Smartphone installieren, um z. B. auch an *Whatsappyo zu kommen, auf das ich durch Familie und Arbeit nicht verzichten kann, aber das befindet sich gerade auch noch in einer sehr frühen Phase der Entwicklung.

Zudem hakte das OS auch noch hier und da, so konnte es partout nicht meinen Standort per GPS finden.

Alles in allem: Weit weg, um als daily driver zu funktionieren, aber schon wieder sehr viel besser, als noch zwei Jahre vorher.

Wenn die Entwicklung nicht aufhört, haben wir vielleicht noch Großes vor uns. Hey, wenn Desktop-Linux ein Beispiel sein wird, dann geht das eventuell schneller als wir uns das vorstellen könnten.

Beginn der Reise

Auf jeden Fall hatte Ubuntu Touchy mir ein Tor hinein zu den Android-Alternativen geöffnet. Das Pixel 3a war ja da und ein OS flashen kann ich nun auch. Also ran an den Gemüse-Braten!

Und zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich da weiter gehen würde, als ich es vor hatte …

Zum dritten Teil der Serie: Lineage OS oder wie ich selbst versagte, es mich aber auf einen besseren Weg brachte

Teil 1 – Meine Google Story – Ist es ohne nötig und warum überhaupt?

Der Januar ist schon ein wahrlich komischer Monat. Nach Stress und Besinnlichkeit in den letzten Jahresmonaten, fühlt sich der Januar immer wie der ungeliebteste Monat im Jahresrund an. Es ist kalt, es ist dunkel, es passiert irgendwie nichts aufregendes. Unnützigkeit dominiert.

Ja, es startet das neue Jahr und man nimmt das zum Anlass, um zum „new year, new me“ zu blasen, wie es seit Neuestem um das ganze Erdenrund bläst. Ohne irgendwie bei Neujahrsvorsätzen großartig mitzumachen, zieht es mich von der Techseite her komischerweise im Januar öfters in tiefe Rabbitholes, die ich voll und ganz ausnutze.

2018/2019 habe ich Linux für mich entdeckt, schwor dem Dual-Boot ab und zerstörte schon mit wilden copy&paste-Tiraden meine erste Ubuntu-Installation.

2021/2022 bin ich mit vollem Körpereinsatz in den Selfhosting-Pool gesprungen und habe meine eigene Nextcloud aufgesetzt, war von Proxmox begeistert und meine Passwörter lagen nicht mehr ungeschützt im Browser, sondern bei Bitwarden (und bei mir).

Und nun hat es mich wieder einmal erwischt und ich bin im Degoogle-Wunderland gelandet.

New Year Extravaganza

Und das Ganze eigentlich ohne richtige Not.

Denn eigentlich finde ich Google richtig, richtig gut. Oder spezifizieren wir es ein wenig: Ich finde die Produkte von Google richtig, richtig gut.

2009 fing ich als Redakteur bei der PC-Praxis an und hatte eine Mailadresse bei GMX. Die Offenbarung kam in dem Moment, als ich das erste mal Googlemail auf dem Bildschirm erblickte. Wir erinnern uns, die ersten Jahre durfte sich GMail nicht so nennen, wegen eines Rechtstreits. Die Weboberfläche war schnell, übersichtlich, die Suche ungeschlagen und das Handle @googlemail.com umwehte ein Hauch von Tech-Weisheit.

Von da an war ich ein Google-Jünger und ich sog regelrecht Alles auf, was von dem Suchmaschinenriesen kam:

• Mein erstes Smartphone war ein Milestone 2 von Motorala. Bis auf einen Ausflug zum iPhone 4 hatte ich nur Android-Geräte und halte das Google-Betriebssystem immer noch für die beste mobile Variante. Weit vor iOS. Es folgten auch Google-“Eigenentwicklungen“ wie das Nexus 5, das Nexus 7-Tablet, Nokia 7+ mit dem Stock-Android-OS und letztes Jahr das Pixel 6. Ich finde Stock-Android großartig und kann das, was bspw. Samsung mit Android anstellt, überhaupt nicht leiden. Bloatware deluxe.

Google Chrome nutzte ich seit der ersten Version und entsagte Firefox damals. Das ging bis 2021 so.

• Ich bin in den Google Services drin bis Unterkante-Oberlippe. Es kam über die Jahre immer mehr dazu und eigentlich genoss ich jeden Service davon, egal ob GDrive, Photos, natürlich Maps und alle Anderen. Ich gehörte auch zu den Opfern des Google-Reader-Tods und habe auf Stadia Cyberpunk und Red Dead Redemption 2 durchgespielt. Meine Familie ist jetzt mit Family-Link im Google-Kosmos verbunden und meine Nextcloud-Backups landen auch auf Gdrive mittels Rclone.

• Ich habe auch Google Home bzw. Nest bis zu einem gewissen Grade mitgemacht, hatte Google Wifi, ein paar Home Minis, die Google Einem umsonst hinterher geschmissen hatte und nutze Chromecast für Audio- und Video-Streaming.

Auf der anderen Seite bin ich nicht der großartigste Proponent, was Datenschutz und Privatssphären-Schutz angeht. Ich habe immer alles mitgemacht, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Angetrieben natürlich von meiner Zeit als Tech-Journalist. Da musste ich alles ausprobieren, was rauskam, um vielleicht den nächsten Artikel darüber zu schreiben oder das nächste Buch zum Thema vorzuschlagen. Von mir gibt es sicherlich mehr tote Accounts von gestorbenen IT-Start-Ups, als manche Menschen überhaupt digitale Zugänge haben.

Mir kann da schon Nichts passieren – oder?

Zudem war ich immer der Meinung:

Google bietet einen guten Service, das Meiste umsonst, dann sollen sie doch mit meinen Daten was machen und mir Werbung zeigen. Fair Game, ich weiß ja, dass der Konzern es macht. Auch bei anderen Konzernen und Online-Plattformen war ich da immer sehr großzügig, was meine Daten anging. Ich dachte: Als kleines Rad am Wagen, gehe sowieso in der Masse unter.

Dann kam Trump, dann kam Corona, dann kamen verbesserte KI-Systeme …

Trump und Corona haben der Welt und mir gezeigt, dass die Grundfesten unseres Lebens einfach mal durchgeschüttelt werden können. Die letzten Jahre waren einfach verrückt und alles andere als stabil; disruptiv, wie man im Neudeutschen so schön sagt. Wer kann mir garantieren, dass Google nicht einfach von Trump 2026 verstaatlicht wird? Dass die EU Google zerschlägt und dies in einem totalen Rückzug aus Europa mündet, ohne dass der Service in einen oder mehrere lokale Konzerne übergeführt wird? Es ist unwahrscheinlich, aber möchte ich mein digitales Leben diesem Risiko aussetzen, wo es doch mittlerweile einen großen Teil des realen Lebens ausmacht.

Zudem wird die „KI“ immer leistungsfähiger, was auch Algorithmen „besser“ werden lässt. Jeder Internetnutzer wird dadurch auch spürbar nackter. Natürlich geht man weitestgehend in der Menge unter, aber durch gewisse Pattern-Erkennungen kann man heutzutage viel schneller aus der Masse gezogen werden.

Also wollte ich auf der einen Seite nicht alle Eier in einem Korb liegen haben, die schnell zerbrechen können und ich im schlimmsten Fall nicht mehr an die Fotos meiner Kinder komme.

Auf der anderen Seite, möchte ich digital schlanker werden, unnütze und meiner Meinung nach Dienste mit falschen Grundvoraussetzungen kündigen und das nötige Tracking auf ein Minimum reduzieren.

Und im Endeffekt möchte ich mit der Sache auch einfach Spaß haben, neue OS ausprobieren, App-Ersatz recherchieren, Self-Hosting ausbauen, etc. cc.

So bin ich auch den Vegetarismus, Linux und anderes angegangen. Nicht großartig ideologisch. Aber ich bin dabei geblieben.

Hey, und ich weiß auch, dass ich auf die Vorarbeit von Pionieren bauen kann. Linux, vegetarische Ernährung und bestimmt auch ein De-Googletes-Leben sind 2023 einfacher als noch 2001.

Also schauen wir einmal, wohin mich dieser Teil meiner Lebensreise nun führt.

Zum zweiten Teil der Serie: Ubuntu Touch; “Nice try, aber lass uns Freunde bleiben.”

Krieg zerstört die Landschaft Krieg hat auch grafischen Einfluss auf die Landschaft: Hier wird in einem verheerenden Krieg zwischen Russland und Deutschland Polen verwüstet

Ich bin ein sehr großer Fan der historischen Grand Strategy Games von Paradox Interactive. Seitdem ich 2005 über Europa Universalis 2 auf der Abandonware-Seite www.homeoftheunderdogs.net gestolpert bin (erstaunlicherweise gibt es diese noch) und ich mir über Torrent eine Spielversion gezogen hatte, liebe ich diese Spiele.

Und ja, ich habe schon bei diversen Conventions beim CEO und diversen Chefprogrammieren Abbitte bei Paradox dafür geleistet. Sie gaben sogar zu, dass Raubkopien die Einstiegsdroge für ihre Spiele darstellen würden. Wer die Spiele mag, würde zum Fan und gibt dann auch anschließend richtiges Geld für Spiele und Add-Ons aus. Und ja, ich habe viel Geld in Paradox-Spiele über die Jahre gesteckt. Wir Paradox-Jünger machen da gerne und oft das Portmonee auf. Das ist natürlich keine Ausrede für digitale Piraterie, denn wie wir alle wissen, ist diese ja böse-böse. ;)

Aber über die Add-On und Entwicklungspolitik von Paradox will ich hier nicht schreiben, sondern über das kürzlich erschienene neuste Spiel Victoria 3.

Eine Schlacht in Victoria 3 Eine Schlacht wird in Victoria 3 ausgefochten

Legt man alle Paradox-Spiele chronologisch hintereinander, so kann der geneigte Spieler rein theoretisch den selben Landstrich vom Tod Alexanders des Großen bis kurz nach dem 2. Weltkrieg spielen. So er denn in Europa liegen sollte. Victoria 3 steigt im Jahre 1836 mit dem Spielerlebnis ein und endet hundert Jahre später.

1837 wurde Queen Victoria gekrönt und gab durch ihre lange Herrschaft und dem Machthöhepunkt des britischen Empires der Epoche des nach-napoleonischen 19. Jahrhunderts ihren Namen. Und auch dem Spiel.

Jedes Paradox-Game hat eine Grund-Thematik, die sich durch das ganze Gameplay zieht. Bei Europa Universalis ist es das brettspieleske Erobern, bei Crusader Kings die rollenspielartige Entwicklung der Charaktere der gespielten Dynastie und bei Hearts of Iron das Kriegführen im 2. Weltkrieg.

Bei Victoria war es immer die wirtschafliche Entwicklung der Nation. Andere Aspekte kommen natürlich auch in den Spielen vor. So hat Hearts of Iron natürlich auch Diplomatie, Europa Universalis Politik und Crusader Kings die Kriegsführung, aber diese Gameplay-Features lehnen sich immer an den Hauptaspekt an.

Bei Victoria ist es nun die Wirtschaft und “boy, what a beast it is”. Die Produktionsketten sind zwar nicht mit denen eines Anno zu vergleichen, allerdings kommt eine andere Komponente hinzu, die es im Aufbau-Klassiker so nicht gibt: Der dynamische Weltmarkt.

Diesen gab es schon in Victoria 1. Der Preis einer Ware errechnete sich immer aus Angebot und Nachfrage. In den ersten beiden Spielen der Serie funktionierte der Weltmark allerdings mehr schlecht als recht, allerdings noch immer so, dass unterhaltsame Spiele dabie herauskamen.

Victoria 3 hebt das ganze nun allerdings auf eine ganz andere Ebene. Dies liegt daran, dass dem Spieler wieder mehr Kontrolle gegeben worden ist. Victoria 2 wurde in weiten Teilen zu einer Simulation, bei der der Spieler meistens nur zuschaute und als virtuelle Regierung nur sehr selten den Spielverlauf beeinflussen konnte.

War eine liberale Regierung an der Macht, die laissez faire als Grundprinzip des Wirtschaftens hatte, so konnte man nicht einmal mehr Fabriken selbst bauen. Dies übernahmen die Kapitalisten für einen. Victoria 3 dreht den Spieß nun wieder um, und lässt den Spieler Fabriken bauen, Import- und Export-Verträge abschließen, neue Märkte an den eigenen anschließen, indem der Spieler andere Länder mit Diplomaten oder aber mit Kanonenbooten überzeugt.

Dadurch lässt sich der Preis einer Ware stark beeinflussen. Das Schöne ist auch: ich bekomme ziemlich schnell Feedback, was eine Änderung bewirkt. So kann ich die gesamte Wirtschaft als Experimentierkasten benutzen, hier mal einen Importvertrag abschließen, da wieder Großfarmen bauen oder eine Werkzeugfabrik vergrößern.

Produziere ich zu viel von einem Gut, dann fallen die Preise. Fallen die Preise zu sehr, dann verdienen meine Untertanen (oder Mitbürger; je nach Herrschafts- und Staatsform) zu wenig, dann können sie sich weniger Konsumgüter leisten, dann werden sie radikal und bald schon steht die Revolution der Landbevölkerung im Verbund mit den Gewerkschaften vor der Haustür.

Bauen von Gebäuden Das Bauen von Gebäuden ist immer noch die wichtigste Einflußnahme auf die Wirtschaft

Also schnell eine Exportroute geschaffen und schon verdienen meine Pops mehr und zahlen zusätzlich auch mehr Einkommenssteuer, wenn man seine Art, Steuern einzuziehen, auf Proportional gestellt hat. Wenn man natürlich wichtige Regierungsgüter wie Papier für die Beamten verschifft oder Waffen für die Soldaten, dann fällt wieder das eigen Budget, da die Regierung mehr Geld ausgeben muss.

Es ist zum Haare raufen! Aber im Kern macht es das aus: Wie bekomme ich zufriedene Bürger und mache als Staat das meiste Geld?

Und es gibt immer noch etwas zu tun. Und es macht Spaß.

Und hierzu spielt natürlich auch der Imperialismus bzw. Kolonialismus der Epoche eine große Rolle. So sehr ich nach Innen immer einen benevolenten sozial-liberalen Herrscher gebe und möglichst schnell Frauenwahlrecht einführe, die Arbeitsbedingungen verbessere, Renten und eine allgemeine Krankenversicherung einführe, so sehr schiebt einen das Spiel nach Außen in eine imperiale Rolle.

Um an Zucker, Gummi, Kaffee, Tee, aber auch Opium (als Grundlage der medizinischen Versorgung) zu kommen, kann ich entweder Handelsverträge abschließen oder selbst Afrika und den Pazifik kolonisieren und auch andere Länder erobern. Das ist im Endeffekt in dem Spiel ein no-brainer. Die Vorteile, die durch die neuen Ressourcen entstehen, wiegen die Nachteile vollends auf bzw. es gibt eigentlich keine.

In den Vorgängerspielen hat ein Land durch die Kolonien nicht so einen großen wirtschaftlichen Vorteil erlangt. Und eigentlich scheint es auch in der historischen Forschung Konsens zu sein, dass hier eher Geld von den Europäern für Machtambitionen verpulvert worden ist, dass Genozide durchgeführt wurden und ganze Völker unterdrückt, nur um die Großmannssucht von den Großen Playern zu erfüllen.

Victoria 1 und 2 gaben dem Spieler daher für das Besiedeln von Kolonien Siegpunkte in Form von Prestige. Diese gibt es immer noch, sind bei Kolonien ehre zweitrangig. Eine meiner ersten Handlungen im Spiel ist es, durch die Regierung die koloniale Gesetzgebung zu prügeln, um Nigeria zu “besiedeln”.

Es ist natürlich bei Strategiespielen immer ein schmaler Grad zwischen Darstellung der blanken Schandtaten, die sich in vorherigen Jahrhunderten abspielten und dem Spielspaß. Hier ist aber dieser Aspekt weitaus zu positiv dargestellt worden.

Die richtige Spielweise gerade ist: Kolonien, Kolonien, Kolonien und möglichst viele Provinzen von Staaten erobern, in denen im Laufe des Spiels Gummi, Öl und Opium auftauchen. So fühlt man sich wie ein George W. Bush der Basra und Fars erobert, um die heimische Industrie mit billigem Öl (das im Laufe des Spiels immer wichtiger wird) am Laufen zu halten.

Und ja, auch wenn das einfach eine Konsequenz des kapitalistisch-globalisierten Handelns ist und mir damit das Spiel eigentlich nur die Wahrheit auftischt, so gibt es keine sozialen und politischen Konsequenzen. Gliedere ich Kolonien konsequent ein und stelle meine Gesellschaft auf multikulturell um, dann habe ich nichts zu befürchten und kein Gandhi wird irgendwann einen Salzmarsch starten. Und meine Politik umzustellen, ist letztendlich viel zu einfach.

Und so zieht es sich durch das ganze Spiel. Es ist nett, dass sich im Laufe des Spiel die verschiedenen Interessengruppen zu Parteien zusammenschließen. Aber wenn – warum auch immer – im Jahre 1930 meine USA von einer Koalition aus Faschisten und konservativen Militaristen regiert wird, dann würde ich schon erwarten, dass sie an der politischen Struktur meines Landes drehen.

Regierungszusammensetzung Die faschistische amerikanische Regierung der 1930er

Aber nein, sie scheinen in meinem sozial-liberalen Utopia mit Wahlrecht, Sozialgesetzgebung und “lieber” Polizei genauso glücklich zu sein wie die davor seit 50 Jahren regierende Intelligentsia im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften (mal als Kommunisten, mal als Sozialisten, mal als Progressive oder Anarchisten). Ja, da hebe ich beide Augenbrauen.

Zum Anderen war es technisch ein grausamer Release: Abstürze noch und nöcher und Performance im Keller. Probleme die eher an eine längst vergessene Paradox-Zeit von vor 15 Jahren erinnern.

Fazit: Ich liebe das Spiel. Es ist unfertig, es ist manchmal fragwürdig, es ist technisch schlecht (obwohl Patches hier schon viel verbessert haben), aber es ist wie kein anderes Spiel auf dem Markt. Da Paradox Spiele auch noch Jahre nach Release unterstützt, freue ich, die Entwicklung auch bei Victoria 3 beobachten zu können.

Folgt mir auf Mastodon: @mmorschel@mastodon.social

Die schöne neue Mastodonwelt kann nicht funktionieren, wenn sie nicht vernünftig moderiert wird. Ja, auch wenn wir freiheitsliebenden Mastodonis nicht gerne kontrolliert werden, brauchen wir dringend viele engagierte “Wächter über die guten Sitten” oder eher Community-Manager, die sich um die Einhaltung der Serverregeln kümmern.

Das Mastodon-Paradox war, dass es trotz einem Mehr an Serverregeln am Schluss zu mehr Freiheit für den einzelnen Nutzer kommt, da er sich sicher sein kann, dass seine persönlichen Befindlichkeiten auf seiner Instanz zumindest versucht werden, in einen Schutzraum zu stellen. Garantiert und umgesetzt sollte dies im besten Fall von engagierten Admins und Moderatoren werden.

Und die Internet-Geschichte hat zumindest gezeigt, dass dies gar nicht so schwer sein muss.

Moloch der Konzernwelten

Aber kommen wir einmal zum Gegenbeispiel. Und dies sind in diesen Tagen mal wieder die großen Social-Media-Konzerne. Moderation hat nicht nur seit Elon Musks Twitterkauf eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung der User mit den jeweiligen Plattformen gespielt.

Nicht zuletzt das NetzDG In der Vermischung mit anderen Länderen, wie natürlich federführend immer wieder die USA, kommt es zu absurden Situationen in denen es zu Schrödinger-Tweet-Lösch-Anfragen kommt.

Twitterer aus Drittländern werden unter dem Mantel des NetzDG unter die Lupe genommen und natürlich deutsche Tweets auch. Es entsteht ein Rechts-Chaos und durch die nachhaltige Verwirrung dadurch ein rechtsfreier Raum. Twitter, Facebook und co. scheinen den rechtlichen Rahmen sehr, sehr weit auszdehnen und sogar zu brechen, wie man beispielsweise an den jüngsten Klagen gegen Twitter durch Anwalt Jun im Namen von Michael Blume sieht ( Beispielhaft: https://www.youtube.com/watch?v=5SS2g3FXTQc).

Und diese Klagen sind auch richtig, um hier Twitter zu zwingen, einen transparenten Referenzrahmen für die User zu schaffen. Denn seien wir mal ehrlich: Kann wirklich ein User vorhersagen, wann ein Tweet gelöscht wird? Wann ein User gebannt wird? Wann dies permanent oder doch temporär ist?

Also ich blicke als Twitter-User, der seit 2009 auf der Plattform angemeldet und spätestens mit Corona und der us-amerikanischen Präsidentschaftswahl von 2020 twittersüchtig geworden ist, nicht durch.

Und Vorsicht, hier kommt jetzt ganz viel Bauchgefühl: Krasse Nazitweets werden gelöscht, aber leider nicht immer.

Nutzer werden aufgrund von Massenmeldungen wegen Lappalien gesperrt, andere wegen anscheinend nur wenigen Meldungen dann nicht.

Twitterprominenz bringt Engagement, bringt Werbung, bringt Geld und daher sind dann doch ein paar Nutzer gleicher als andere.

Ingesamt ein verwirrendes Moderationskonstrukt, das nicht gerade für Transparenz und Vertrauen in die “freie und geschützte Meinungsäußerung” sorgt.

Hinzu kommt natürlich, dass Facebooks und Twitters Moderatorenteam anscheinend chronisch unterbesetzt sind. Dann kommt wieder einmal der berühmte Algorithmus ins Spiel und sortiert Meldungen automatisch vor. Wie und warum und wieso das passiert bleibt natürlich für den Nutzer hinter einem Schleier des Unwissens versteckt.

Und warum sollte das Mastodon besser machen?

Wie Phönix aus der Asche

Wenn wir uns einmal die Entwicklung des Weltnetzes der letzten 20 Jahre betrachten, so sehen wir, das Moderation gelingen kann. Die späten 1990er und die frühen 2000er sahen den Aufstieg der Internetforen. Eigentlich alles privat betriebene, kleine Social-Media-Instanzen, die jedes Thema abdeckten und abdecken: Von historischen Strategiespielen bis hin zum südbengalischen Schuhplattlern war wohl alles dabei.

Wie jede soziale Gemeinschaft entwickelt sich meist recht schnell ein Team aus Admins und Moderatoren, das über die Forenregeln wachten. Wie diese Aussehen, kann das Forum selber bestimmen. Manche gehen strickt gegen jede Nacktheit in Bildern vor, andere unterbinden klar politisch-extreme Meinungen und andere achten nur darauf, dass keine Links zu Raubkopien gepostet werden, ansonsten gilt “Alles kann, alles muss”.

Die Reichweite der eigenen Themen ist genauso divers, wie der Umgang mit Regeln. Die Foren, die am längsten und auch heute noch überleben, haben es meistens geschafft, hier eine gute Balance zusammen mit den Usern herzustellen. Aber es kommt auch zu Abspaltungen etc. wenn der Admin ein kleiner Tyrann ist, oder anders, keine Nazis in seinem Forum haben will.

Auf der anderen Seite der Skala hat man dann natürlich Reddit, obwohl wir hier natürlich eigentlich auch nur von einer klassischen Forensammlung reden. Und dann gibt es natürlich noch die Imageboards auf der Schmuddelseite des WWW. Aber ehrlich: Auch wenn ich pr0gramm, 4chan und andere nicht mehr frequentiere, so hatte ich den Eindruck, dass auf diesen Plattformen die Moderation teilweise klarer, transparenter und auch konsequenter durchgeführt wird, als bei Twitter und Facebook.

Die meisten Mastodonis hatten bestimmt schon einmal virtuellen Stress mit einem Forums-Moderatoren, zumindest wenn man die Alterstruktur betrachtet: Mastodons primäre Alterskohorte setzt sich aus Millenials und Generation Xern zusammen, die bestimmt Mitglied in dem einen oder anderen Internet-Forum waren und noch sind.

Und hat das geklappt? Ja, das hat es und es klappt noch immer.

Es kann gut und sogar noch besser werden

Wenn man die Beschreibung von Foren liest, so ist die Ähnlichkeit zum Fediverse und hier speziell Mastodon natürlich sehr stark. Und daher bin ich fest der Überzeugung, dass sich hier genauso eine Instanzen-Kultur im Spiel mit den festgelegten Regeln geben wird (oder schon gibt) wie bei den sozialen Vorgängern.

Sicherlich, das ist Arbeit und es werden hier natürlich wie immer engagierte Mitglieder gebraucht, die Zeit investieren, um Postmeldungen hinterherzuklicken. Große Instanzen werden andere Probleme haben als kleinere. Bei der einen geht es in der Entscheidungsfindung transparenter zu als bei einer anderen. Es wird das gleiche Spiel sein, wie wir es schon einmal hatten.

Foren wurden durch das Aufkommen der großen Social-Media-Konzerne marginalisiert. Es wäre schön, wenn durch das Fediverse das Gute an dieser Kultur wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden würde.

Es wird sogar noch um einen Aspekt erweitert: Sicherheit. Wenn man aus einem Forum ausgeschlossen wird, dann kann man mitunter Pech haben und man findet keine Alternative. Es gibt halt nur ein aktives Forum zu Fliegenfischen in der Osteifel.

Wird man aus einer Mastodon-Instanz rausgeworfen und das ohne triftigen Grund, dann wechselt man einfach die Instanz.

Und wenn man da auch gebannt wird, weil man einfach ein riesengroßes Arschloch ist, dann kann man sich sicher sein, dass dies wenigstens von einem Mensch durchgeführt worden ist und keinem Algorithmus.

Was des einen Freud ist, ist des anderen Leid – ja, manchmal kann man kleine Texte auch mit einem Standard-Satz einleiten, insbesondere, wenn es um die spezielle Beziehung von Twitter und Mastodon geht.

Seit der Milliardär (Spezialisierung auf Unterhaltung und Luftballons) Elon Musk ein paar seiner Milliarden in die Übernahme von Twitter versenkt hatte (Ja, wir gehen doch mal bitte von “versenkt” aus. Keiner denkt doch, dass er eine gesunde Plattform aufbaut und da mit Gewinn rauskommt), startete ein Exodus Richtung Mastodon. Und dies natürlich absolut zurecht.

Mastodon hat viele Vorteile und auch weiterreichende immanente Features, welche die dezentrale Plattform zur Antwort auf die Frage macht: Wie wollen wir in Zukunft unser soziales- und auch öffentlich-politisches digitales Leben ausgestalten?

Jetzt auch mit Usern

Mastodon wirkt da wie der digital “Fleisch gewordene Traum” der Piratenpartei der späten 00er-Jahre. Und auch, wenn es sich manches Mal anfühlt, als würde man in diese Zeit zurückversetzt (was nicht stimmt, Facebook und co. waren schlechter vor 14 Jahren), so erfüllt dieser Teil des föderierten Netzwerks (dem Fediverse) viel, was sich Netzaktivisten lange gewünscht haben: Dezentralität, basisdemokratische Entscheidungsfindung (möglich) und keine Abhängigkeit von großen Konzernen.

Nun kommt noch eine weiter Komponente hinzu, die natürlich für ein soziales Netzwerk zentral ist: Eine große digitale Öffentlichkeit. Ohne Mampf kein Kampf und ohne eine diverse Usergruppe wird Mastodon und das Fediverse immer eine freakige Nerdshow der Partikularinteressen bleiben. Und auch wenn das gar nicht schlecht ist und seinen Platz in der Welt haben sollte (auch Tumblr ist “alive” und in seinem Maße “well” gerade), wollen wir doch alle irgendwie mehr.

StudiVZ der 2020er?

Nichts war trauriger, als die digitale Nahtoderfahrung gemacht zu haben und sich noch einmal in seinen Studi- bzw. MeinVZ-Account irgendwann in den 2010ern einzuloggen. Keine Webseite stand so für eine Geisterstadt wie der deutsche Facebook-Vorgänger. Zu MySpace kann ich leider wenig sagen, da war ich einen Tick zu alt. In meinem Tech-Snobbismus meiner 20er hielt ich die mit Musik unterlegten Webseiten für sehr “cringe”, wenn es das Wort schon in der Bedeutung damals gegeben hätte.

Ich glaube aber nicht, dass Mastodon und das Fediverse den selben Weg gehen werden. Das sind natürlich hohe Worte von einem Nutzer der seit erst einer Woche dabei ist, aber meine lieben Kinder, ich habe in meiner Zeit schon genug Tech und Services erlebt, um sagen zu können, was gut ist und was nicht. Und ... ähem ... ja, meine Begeisterung für Google Stadia ... Nun, da reden wir hier nicht mehr drüber ... Sie verstehen ...

Oder anders: Ich sehe viele Mastodonis, gerade aus der Tech-Szene, die sich ein gebührendes Maß an Skepsis antrainiert hatten (wie yours truely), die innerhalb von Tagen zum absoluten Fediverse-Jünger geworden sind. Wo ist die Magie? Warum passiert sowas. Ich nennen es das Mastodon-Paradox.

Das Paradoxon

Aber kommen wir dazu, warum ich denke, dass Mastodon die Synthese und ist und praktisch dialektisch miteinander viele Dinge miteinander vereinigt, die eigentlich als unvereinbar gelten.

Erst einmal zum liebsten Kind von Alt-Rights und Elon dem Lemusken:

Freedom of Speech (Groß geschrieben und mit Fähnchen)

Wollen alle, aber nur, wenn mir keiner widerspricht. Dass Twitter hier absolute Meinungsfreiheit in den digitalen Absonderungen garantieren würde, ist praktisch unmöglich. Kein private Firma kann und darf das einfach so machen und garantieren. Es ist Werbesprech muskscher Art: An dem einen Abend verspricht er einen Super-Androiden und am anderen direkt die vollkommene Meinungsfreiheit. Dass er in einem Netz der Befindlichkeiten und der Rechte sitzt, sieht er selbst nicht.

Auf der anderen Seite wird Mastodon vorgeworfen:

“Ja, ihr da drüben habt ja keinen Musk, aber ihr habt ja dann nicht nur einen Tyrannen, sondern direkt drölfzigtausend!!!11elf”

Und diesen entgegne ich dann:

Ja, recht so!

Dieser Aspekt sorgt nicht für weniger Meinungsfreiheit, sondern für mehr. Ein Admin oder eine Gruppe von Mods und Instanz-Großgrundbesitzern ist erst einmal nur sich selbst und den eigenen Usern gegenüber verpflichtet, als Zweites dann (wenn sie wollen) dem Fediverse.

Gibt es harte Arschloch-Admins, dann finden sie keine Nutzer und wenn, dann werden sie schon wissen, warum sie unter der harten Knute leben wollen (Zwinker, Zwonker).

Haben sich Instanzen selbst ein hartes Regime an Regeln auferlegt, um einen safe space zu schaffen, dann ist das auch im ausschließendem Moment der absolute Ausdruck von Meinungsfreiheit:

Wir müssen dir nicht zuhören, ich kann vor dir die Tür schließen, wenn ich keinen Bock auf deine Aussagen habe.

Und dabei ist es auch egal, ob eine Instanz alle Nutzer mit einem “E” im Namen ausschließt.

Alle Grundrechte kommen positiv und negativ daher, auch immer als Abwehrmechanismus gegenüber dem Staat, aber natürlich auch den lieben und nicht so lieben Mitmenschen gegenüber. Wenn ein soziales Netzwerk Türen anbietet, die geöffnet und geschlossen werden können, dann ist dies ein Mehr und ein Gewinn an Meinungsfreiheit.

Für Twitter und Vulgär-Libertäre ist das absolute Recht auf Blöken freie Meinungsäußerung. Dass es falsch verstandene Meinungsfreiheit ist, wenn der heiß-laufende Blockbutton als der Höhepunkt der negativen Freiheiht gesehen wird, wird in den Kreisen nicht so gesehen.

Dass Müll-in-der-Timeline und ja, für jeden ist “Müll” etwas anderes, keine Meinungsfreiheit ist, sollte klar sein.

Dezentralität und Flexibilität sind (Vorsicht, hohes Wort!) ein Geschenk an den mündigen Bürger, um sein Leben selbst zu gestalten.

Und ja: Wir leben jetzt erst in einer Zeit in der man das technisch umsetzen kann und auch die nötigen Nutzerscharen bekommt, um dies am Leben zu halten.

Wie für den Kommunismus der Kapitalismus eine notwendige dialektische Vorbedingung darstellt (wenn man denn dem ollen Kalle Marx anhängt), so musste es auch Twitter geben, damit Mastodon entstehen konnte. Wir mussten erst zu den freien Social Network-Proletariern werden, die das neue System stützen können. Oder so ähnlich.

Alles hat seine Zeit und deswegen ist Mastodon eher modern und als der Zeit gefallen.

Und das ist die Auflösung des Paradaxons: Dass mehr Kontrolle und Kontrolleure mehr (Meinungsfreiheit) bieten als weniger.